Sich dem Kriegs-Zeitgeist erwehren

Veröffentlicht am 28. April 2024 um 03:29

Als ich diesen folgenden Text gelesen hatte, erinnerte er mich direkt an meinen ersten für diese Website (Intention) - v.a. aus zwei Gründen: der Schmerz und mein Vorhaben, eine Friedensseite zu gestalten, die eben gerade nicht den Krieg bebildert, sondern dem etwas entgegensetzt. Die Intention war es, eine Friedensseite zu gestalten, keine Kriegsseite. Und ich schrieb damals:

"...Bis vor Kurzem dachte ich, man muss die Dinge benennen, vor Augen führen, weil ich das Gefühl hatte, es sei nicht bewusst. Aber man muss das nicht veranschaulichen. Die Menschen verstehen sehr gut."

Dem entsprechend gibt es keine verstörenden Kriegsbilder von zerfetzten Körpern auf friedenunddiplomatie.de. Mittlerweile würde ich diesen Satz auch nicht gerade revidieren, jedoch ergänzen wollen. Das Bewusstsein darüber, was Krieg wirklich bedeutet, ist m.E. schon mehrheitlich da (auch wenn noch so steril und distanziert darüber gesprochen wird). Aber nach dieser langen Zeit des Ukrainekriegs, der 24/7 überall präsent ist, scheint es so, als werde die brutale Entmenschlichung und alles, was damit einhergeht, völlig ausgeblendet. Ich kann das verstehen, praktiziere ja selbst immer öfter die Ausblendung ganz bewusst. Wie sollte man das denn sonst aushalten?

Die Grausamkeiten des Krieges und on top die Grausamkeiten der Verherrlichung und makabren Anbiederung des Krieges, der Kriegsmaschinerie, der Militarisierung unserer Gesellschaft und des Versuchs, unsere Köpfe umprogrammieren zu wollen (und das von denen, deren Verantwortung das Gegenteil verlangt), kann kein normaler Menschenverstand ertragen. Was ich allerdings nicht nachvollziehen kann, ist der Umstand, dass es in den Fällen des Bewusstseins darüber, wohl einen verengten Denkkorridor gibt, der die Hälfte der Grausamkeiten negiert.

Krieg ist interaktiv, reziprok und höchst persönlich. Da gibt es mehrere Beteiligte und alle leiden. Warum heißt das Wort Schlachtfeld wohl Schlachtfeld? Wer oder was wird denn in einem Abnutzungskrieg abgenutzt? Kann es einen Patt mit sich selbst geben?

"Wer über den Krieg spricht, muss sich stets vor Augen führen, wie er aus der Nähe aussieht."

 Jan Opielka schreibt:

"Es ist längst ein »Abnutzungskrieg«, eine »Materialschlacht« – auch wenn der Begriff in die Irre führt, denn es werden in erster Linie Menschenleben zerstört...

Positionen, die das Denken über ein »Einfrieren« des Krieges in der Ukraine oder eine Waffenruhe per se als Katastrophe und Gift bezeichnen, offenbaren vor allem eines: Verantwortungslosigkeit angesichts der geschehenen wie der möglichen Verheerungen. Es ist eine Verantwortungslosigkeit, geäußert aus sicherer Entfernung.

Blind für das Reale

Nein, wir im Westen sehen und fühlen nicht, was Krieg bedeutet. Die Bilder, die wir in den Fernsehnachrichten sehen, zeigen nicht hautnah jenen Moment und die ewigen Sekunden danach, in denen ein ukrainischer Soldat von einer russischen Bombe zerfetzt wird; dafür zeigen sie regelmäßig, wie ein ukrainischer Soldat gerade eine Bodenrakete zündet, deren Ziel und Explosionsopfer unbestimmt bleibt.

Wir sehen nicht, wie der ukrainische Soldat, dessen Beine gerade weggesprengt wurden, ausblutet, noch bei Bewusstsein, verzweifelt schreiend und verloren; wir sehen nur den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der einen »Friedensplan« präsentiert – vollständiger Abzug russischer Truppen aus der Ukraine, Reparationen für Kriegsschäden, Auslieferung von Kriegsverbrechern –, der zwar wünschenswert wäre, aber um Galaxien entfernt ist von der brutalen Realität.

Der US-Journalist Chris Hedges, der jahrzehntelang aus Kriegsgebieten berichtete, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben: The Greatest Evil is War. Im Schlusskapitel schreibt er:

»Ich trage den Tod in mir. Den Geruch von verwesten und aufgedunsenen Leichen. Die Schreie der Verwundeten. Die Schreie der Kinder. Den Klang der Schüsse. Die ohrenbetäubenden Explosionen. Die Angst. Den Gestank von Kordit. Die Demütigung, die entsteht, wenn man sich dem Terror ergibt und um sein Leben bettelt. Den Verlust von Kameraden und Freunden. Und dann die Nachwirkungen. Die lange Entfremdung. Die Gefühllosigkeit. Die Albträume. Den Schlafmangel. Die Unfähigkeit, sich mit allen Lebewesen zu verbinden, selbst mit denen, die wir am meisten lieben. Das Bedauern. Die Absurdität. Die Verschwendung. Die Sinnlosigkeit. Nur die Gebrochenen und Verstümmelten kennen den Krieg. Wir bitten um Vergebung. Wir suchen Erlösung. Wir tragen dieses schreckliche Kreuz des Todes auf dem Rücken, denn das Wesen des Krieges ist der Tod, und die Last des Krieges gräbt sich in unsere Schultern ein und frisst unsere Seelen auf. [...] Er verlässt uns nie.«

Viele der »Sieg-um-fast-jeden-Preis«-Befürworter im Westen kennen den Gestank, den Lärm, die Sinnlosigkeit des Krieges nicht. Was unser politisches und Teile des medialen Establishments westlich der Ukraine gut können, ist zählen. Eine Million Artilleriegeschütze, 500 Panzer, 50 Milliarden Euro an Zusagen der EU und so weiter.

Doch »Verhandlungen« lassen sich nicht zählen, ebenso wenig wie der vielbeschworene »Sieg«, dessen halbwegs realitätsnahe Konturen, Form und Folgen nirgendwo erläutert werden. Stattdessen ertränken wir die unausgesprochene, weil in ihrer Komplexität kaum zu fassende Realität in einer Art Computerspiel-Sprache: Einer muss gewinnen und einer muss verlieren.

Allzu viele von uns wollen nicht zur Kenntnis nehmen: Selbst, wenn es der Ukraine gelingen sollte, die russischen Truppen in diesem Jahr oder 2025 aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen – was nach derzeitigem Stand und laut Einschätzung auch westlicher Militärstrategen kaum möglich ist, und wenn, dann nur unter einem noch deutlich höheren Blutzoll –, wäre das dann der Sieg? »Game Over«, Russland gibt auf, zieht seine Truppen in die Kasernen ab?

Warum bilden die Menschen, die lautstark die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern fordern, nicht stattdessen internationale Brigaden? Das ist natürlich eine rhetorische Frage – doch sie hilft, sich klarzumachen, wie einfach es ist, die Fortführung des Krieges aus sicherer Entfernung von anderen zu fordern. Im Spanischen Bürgerkrieg 1936–39 kamen solche internationalen Brigaden gegen Francos Faschisten zum Einsatz...

Wenn unsere Balkon-Bellizisten von heute es ihnen gleichtäten, könnte man ihnen jedenfalls nicht mehr vorwerfen, dass sie nur fremdes Blut für auch unsere, mutmaßlich bedrohte Freiheit zu vergießen bereit sind."


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