Mein Brief an Rolf Mützenich

Veröffentlicht am 17. August 2024 um 22:30

Vor 5 Tagen schrieb ich einmal mehr einen Brief - diesmal aus aktuellem Anlass an Rolf Mützenich, den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion.

Denn er äußerte sich wie folgt auf die wohl nicht mit der Partei abgesprochenen, aber in Washington verkündeten, geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland:

"Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verbessern, aber wir dürfen die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden", und weiter:

"...Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich", außerdem:

"...Mir erschließt sich auch nicht, warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll. Unter Lastenteilung habe ich bisher etwas anderes verstanden."

Und er verwies auf Helmut Schmidts Doppelstrategie 1981

Die Frage ist, wer das entschieden hat, denn Bundeskanzler Scholz sagte in seiner Presseerklärung: "Die jüngste Entscheidung der USA, weitreichende konventionelle Waffen in Deutschland zu stationieren..." und in der "Gemeinsamen Erklärung", die nur diesen Titel enthält, aber ansonsten von Gemeinsamkeit keine Spur, steht nur, was "die Vereinigten Staaten tun werden". Die SZ schreibt allerdings, sie wüsste von "vertraulichen Gesprächen" zwischen Kanzlerberater Jens Plötner und US-Sicherheitsberater Jake Sullivan schon vor einem Jahr - was die Sache allerdings m.E. nicht besser macht, denn das würde bedeuten, es gäbe bereits seit einem Jahr Gespräche an den Parteien, am Bundestag und an der Öffentlichkeit vorbei.

Das kann man sich ja gar nicht ausdenken!

Erinnert mich schlagartig an zweierlei: zum Einen an die sog. atomare Abschreckung, die sich spätestens mit dieser Meldung - selbst für Abschreckungsbefürworter - zur Farce entwickelt hat: "Britische Atom-U-Boot-Software, die von belarussischen Ingenieuren gebaut wurde" und die Meldung über den Traditionserlass, indem nun ehemalige Wehrmachts- und SS-Soldaten als Vorbilder in der Bundeswehr verehrt werden sollen: "Bundeswehr erklärt sich in den "Traditionen" der Hitler-Wehrmacht verwurzelt". Auch wenn Ersteres wie Satire klingt, Letzteres ist für mich wirklich abschreckend, abschreckender geht eigentlich gar nicht mehr. Man beachte, wie selbst aktive Bundeswehrsoldaten öffentlich darüber debattieren. Darauf werde ich an anderer Stelle noch einmal genauer eingehen, daher zurück zum Thema Abschreckung mittels weitreichender US-Raketen in Deutschland und Mützenichs Contra.

Hier nun mein Brief an ihn, den ich ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung gedacht hatte, mir dann jedoch überlegte, dass es gut wäre, wenn er viele (am Besten individuelle) Briefe bekäme. Daher im Folgenden meiner nur als Beispiel und hier die Mailadressen:

rolf.muetzenich@bundestag.de, rolf.muetzenich.ma01@bundestag.de, rolf.muetzenich.ma02@bundestag.de, rolf.muetzenich.wk@bundestag.de, koelner-spd-mdb@netcologne.de

"Lieber Herr Mützenich,

zunächst einmal möchte ich mich herzlichst bei Ihnen für Ihre klaren, konstruktiven und äußerst wichtigen Worte zur geplanten Stationierung der US-Mittelstreckenraketen bedanken.

Und ja, Sie hatten im März absolut Recht, selbstverständlich ist es längst „an der Zeit, nicht mehr nur darüber zu reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenkt, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann“! In Wahrheit hätte es niemals dazu kommen dürfen, überhaupt nur über eine Kriegsführung zu reden (während man steif und fest behauptet, man wäre keine Kriegspartei) – v.a. nicht in unserem Land mit dieser einschlägigen Historie!

Wo sind wir nur hingekommen?

Was interessiert eigentlich die Russen, was ein Herr Kiesewetter im Namen Deutschlands vorgibt zu sein oder nicht zu sein? Sie entscheiden selbst, wann sie Deutschland als Kriegspartei wahrnehmen und jeder, der sich wahrhaftig und ernsthaft mit dem Völkerrecht beschäftigt, identifiziert auch an dieser Stelle direkt schwerwiegende Probleme für uns (abgesehen von der Doppelmoral jetzt in Bezug auf Israel).

Und diese – hoffentlich spätestens nach der Sommerpause - intensive Debatte über die Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper, die SM-6 Mehrzweckraketen und die neue US-Hyperschallwaffe Dark Eagle und damit verbunden die „Modernisierung“ der nuklearen B61-12-Bomben in Büchel muss doch tatsächlich gerade einmal 5 Jahre nach dem INF-Vertrag in Deutschland geführt werden. Und zwar nicht, weil wir uns vehement für die Wiederaufnahme des Vertrags einsetzen, sondern die Lücke direkt ausnutzen wollen?

Wo sind wir nur hingekommen?

Diese fortschreitende Aufrüstung war bereits vor vielen Jahren sichtbar und beschlossen (spätestens offiziell mit der neuen NATO-Militärstrategie aus 2019) und der erst später eskalierende Ukraine-Krieg wird jetzt aggressiv dazu genutzt, um diese Strategie in der Bevölkerung als unumgänglich und alternativlos zu verargumentieren und implementieren. Man fragt sich zwangsläufig, wie die Argumente denn gelautet hätten bzw. was passiert wäre, wenn sich Russland auch im Februar 2022 weiterhin zurückgehalten hätte.

Unsere Gesellschaft wird – mit Verlaub und explizit nicht von Ihnen – für dumm verkauft. BK Scholz beschimpft Friedensmenschen als „gefallene Engel, die direkt aus der Hölle kommen“ (da waren Freunde von mir dabei von der DFG-VK, vom Münchner Friedensbündnis, IPPNW, Kriegsveteranen etc.!) und Omid Nouripour erklärt arrogant-schnöselig den kleinen Kindern, dass ein Plakat hochhalten noch keinen Frieden ergibt. Man müsse „hart am Frieden arbeiten“, sagt er und tut NICHTS (bzw. das Gegenteil, Öl ins Feuer). Zu diesen „kleinen Kindern“, die sie nun „aufklären“ möchten, gehören Persönlichkeiten wie Klaus von Dohnahnyi, Noam Chomsky und sogar der Papst (die Liste ist sehr lang, wie Sie sicherlich wissen).

Zum „Aufklären“ (treffender Verklären) gehört des Weiteren eine Art der Unterdrückung, Ausgrenzung und Diffamierung, wie sie in einer echten Demokratie nichts zu suchen hat. Die Menschen werden von oben herab eingeschüchtert und es werden Ängste geschürt, an Stellen wo sie eher fehl am Platz sind, um von den Tatsachen und Fakten abzulenken, die wirklich beängstigend sind.

Ich bin ein (geo-)politisch sehr interessierter Mensch und beschäftige mich seit ca. 25 Jahren intensiv damit. Noch länger wählte ich die SPD, was letztes Jahr zu unserer bayerischen Landtagswahl ein Ende fand. Ich bin wohl ein Beispiel für Millionen andere, denen es genauso geht. Albrecht Müller brachte es heute auf den Punkt: „In Umfragen erreicht sie [die SPD] heute ungefähr 15 %. Das ist genau ein Drittel dessen, was die SPD am 19. November 1972, sozusagen zum Abschluss ihrer Friedenspolitik, eingefahren hat: 45,8 %. Das war der Dank und der Respekt der Wählerinnen und Wähler für die in den sechziger Jahren eingeleitete und (...) konsequent verfolgte Politik der Verständigung.“

Leider musste ich kürzlich lesen, dass Sie überlegen, überhaupt noch weiterzumachen. Lieber Herr Mützenich, ich hoffe sehr, dass Sie weitermachen! Genauso wie ich hoffe, dass die anderen vernünftigen Stimmen in der SPD endlich lauter werden (es gibt sie ja schließlich noch!). Immerhin gab es bereits zwei öffentliche Appelle und das aus der Partei, die gerade den Kanzler stellt. Was wäre, wenn die SPD in diesen Zeiten in der Opposition wäre?

Dieser Brief ist ein Appell weiterzumachen, kritisch zu bleiben und dem einseitigen Bellizismus etwas entgegenzusetzen. Sie, Herr Mützenich, haben diese Möglichkeit wie kein Zweiter. Auf Sie hört man und es gäbe so viele Menschen (auch sehr renommierte Personen oder auch Institute), die Ihnen unbedingt den Rücken stärken würden! Ein Beispiel dafür, dass Sie gehört werden, ist der ARD-Artikel von Uli Hauck (die ARD verschweigt uns am Vehementesten, aber Sie wurden jetzt (nach den üblen Artikeln im März) sogar äußerst wohlwollend erwähnt).

Die Friedensbewegung wird massiv torpediert, ignoriert oder niedergemacht. Die allermeisten Medien berichten auch überhaupt nicht über unsere täglichen Aktionen. Somit finden wir in der Öffentlichkeit fast gar nicht statt und was medial nicht stattfindet ist nicht existent. Es ist zum Verzweifeln!

Wir planen nun eine weitere Großdemonstration am 3. Oktober in Berlin am Brandenburger Tor (wir sind unparteiisch, ein Bündnis aus Friedensorganisationen und Einzelpersonen, die für Verständigung und Deeskalation eintreten) und hoffen, irgendwie medial stattzufinden. Die Erwartung ist allerdings erfahrungsgemäß gering (obwohl es dann im November immerhin Berichte gab), auch wenn sich sicherlich viele Tausende dort versammeln werden. Selbstverständlich sind Sie herzlich eingeladen, Sie könnten uns auch dazu verhelfen, eine Debatte endlich ernsthaft anzustoßen. Meine Befürchtung ist, dass wir uns in einer clausewitzschen Spirale befinden und uns läuft die Zeit davon! Oder näher in die Gegenwart, das IPG schrieb vor 4 Wochen („Alles nur Routine?“): „Bereits 1956 kam der US-amerikanische Stratege William W. Kaufmann zum Schluss, dass die klassische konventionelle Kriegsführung bis zur totalen Niederlage zwischen Atommächten zwangsläufig in einer nuklearen Eskalation enden würde.“

Allerdings verstehe ich auch Ihre äußerst schwierige Position als Fraktionsvorsitzender der Kanzlerpartei..., daher: Ihre Reden im Bundestag sind unverzichtbar, wenn wir eine totale Eskalation vermeiden wollen!

Ich möchte noch eines zu Bedenken geben: die Bevölkerung lässt sich mit dieser falschen Dichotomie der Bellizisten nicht an der Nase herum führen (das sagen auch alle Umfragen, sowie die Europawahl), den Menschen ist bewusst, was hier passiert. Das Problem des fehlenden großen Aufschreis bisher ist hauptsächlich, dass Viele kapituliert haben. Sie sind davon überzeugt, dass die große Katastrophe unausweichlich ist – auch, weil sie davon überzeugt sind, nichts ändern zu können. Wie furchtbar ist das denn und was sagt das über unsere Demokratie aus?

Ich selbst habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, obwohl es zunehmend deprimierender wird.

Kürzlich bekam mein 16-jähriger Sohn (16!) von der Bundeswehr bereits eine sog. „V.I.P.-Einladung“ für ein „spannendes, exklusives Backstage-Event“. Ich könnte nur noch heulen! Meinen Sohn bekommen sie nicht!

Wie wäre es, wenn sie erst einmal ihre eigenen Söhne an die Front schicken – v.a. auch die „vielen, tollen Menschen“ der neuen Initiative Arbeitgeber und Reserve? Man beachte: Selenskyj sagte in einem Interview im Jahre 2022 auf die Frage, wo seine Kinder sind: „Keine Sorge, die sind in Sicherheit!“ Wenn`s um seine eigenen Kinder geht, dann definiert man ganz offensichtlich den Begriff Sicherheit nach wie vor umfassend, wenn`s um die Kinder der Bevölkerung geht, dann steht sie synonymisch ausschließlich für`s Militär?

 

„Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt,

wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären,

Krankenschwestern für Kriegslazarette

und neue Soldaten für neue Schlachten,

Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!“

Wolfgang Borchert

 

Lieber Herr Mützenich, in diesen Tagen ist es alles Andere als selbstverständlich, sich kritisch und überlegt zu äußern. Dafür braucht es Mut, Rückgrat, Verstand und Überzeugung. Bitte bleiben Sie sich und auch der SPD (mit ihren ursprünglichen Werten) noch eine ganze Weile treu. Denn:

 

"Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.

Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer..."

Bertold Brecht, 1952

 

Mit friedvollen Grüßen

Tanja Stopper

 

P.S.: Man schweigt, wenn Kinder schlafen - nicht, wenn sie sterben."


Kommentar hinzufügen

Kommentare

Christina Zgoll
Vor 2 Monate

Liebe Tanja Stopper, ein wunderbares Statement.
Ich versuche auch immer mit meinen Schreiben die Politiker und andere Institutionen aufzurütteln, bisher mit wenig Erfolg.
Habe wieder etwas in petto, allerdings vormittags wenig Zeit. Ich werde es später verbreiten.
Eines in Bezug auf die Klimaaktivisten hatte ich bereits versandt.
Mit friedvollen Grüßen