Die multipolare Welt – Weltordnung im Wandel

Veröffentlicht am 27. März 2023 um 17:45

Richard David Precht und der Bestseller-Autor Pankaj Mishra sprechen hier über den Aufbruch des Dualismus zwischen Ost und West und den Wandel der vom Westen dominierten Weltordnung hin zu einer deutlich komplexeren, multipolaren Welt. Ein wirklich sehenswertes Interview!

„Sei es die Klimakrise, Corona oder die Maßnahmen gegen den Ukraine-Krieg - der globale Süden verweigert Europa und den USA immer häufiger die Zustimmung. Während wir uns hier im vorwiegend demokratischen Westen immer noch für den Nabel der Welt halten, entfalten vor allem die Staaten Asiens ein neues Selbstbewusstsein.“

Diese Veränderungen und das wachsende Bedürfnis der restlichen Welt, sich nicht länger vom Westen bevormunden zu lassen, so Mishra, seien aber im Bewusstsein des Westens noch nicht angekommen bzw. werden unterschätzt. In Europa halte man immer noch schlafwandlerisch an der Gefolgschaft zu den USA fest, anstatt dem globalen Süden auf Augenhöhe zu begegnen.

Laut Mishra sollte sich Deutschland dem dramatischen Niedergang westlicher Dominanz entgegenstellen und als vertrauenswürdiger Vermittler aufzutreten.

"Es gibt einige Fragen, die man sich auch im Bezug auf die Vergangenheit stellen sollte. Ich habe ein sehr interessantes Buch eines jetzt in London lebenden, russischen Historikers über den Zusammenbruch der Sowjetunion gelesen. Er spricht darüber, wie Gorbatschow im Grunde die deutsche Wiedervereinigung und auch die Mitgliedschaft des Vereinigten Deutschlands in der Nato abgesegnet habe.

Ohne irgendwelche Einwände, ohne irgendwelche Probleme zu sehen.

Wie konnte es soweit kommen, dass selbst der damalige deutsche Bundeskanzler und der amerikanische Präsident völlig erstaunt darüber waren, dass Gorbatschow das ohne Verhandlungen einfach so zugestanden hat?

Wie sind wir von dieser Art von Großzügigkeit zum heutigen Putinismus gekommen, der sich Teile der Ukraine einverleibt?

Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Wird Deutschland eine Erklärung dafür finden oder sind wir einfach entschlossen, alles über die Vergangenheit zu vergessen und darauf zu bestehen, dass dies ein globaler Kampf gegen die Autokratie ist und dass man keine andere Wahl hat, als sich diesem Kampf anzuschließen? (...)

Was könnte in Zukunft noch schief gehen?

Oder sind wir einfach entschlossen, uns dem anzuschließen, was die Vereinigten Staaten sagen?"

ZDFheute Nachrichten, 27.03.2023


Pankaj Mishra ist ein indischer Essayist, Literaturkritiker und Schriftsteller. International bekannt wurde er mit seinem Sachbuch „Butter Chicken in Ludhiana“, einer soziologischen Studie des kleinstädtischen Indiens, und als Essayist für „The New York Review of Books“. Er lebt in London und Indien.


Pankaj Mishra: «Die Welt sitzt in der Falle»

In diesem Zusammenhang lohnt es sich m.E. auch, dieses Interview aus dem Jahr 2018 von Claudia Mäder mit Pankaj Mishra zu lesen. Denn hier warnte er bereits davor, den Aufstieg des Westens als Erfolgsgeschichte zu sehen, die heutige aufstrebende Länder bloß noch nachvollziehen müssen.

«Ich denke in der Kategorie des Realismus»

"Gesundheit, Wohlstand, Sicherheit: Alles wird besser. Aber Wut, Ressentiment und Unzufriedenheit werden überall grösser. Der indische Autor Pankaj Mishra führt das scheinbare Paradox auf die Aufklärung zurück und blickt in eine dunkle Zukunft."

Geht man der Frage der Wohlstandsverbesserung nach, stellt man fest:

"Die Verteilung ist völlig ungerecht. Egal, ob in den USA und in Großbritannien oder in Indien, Indonesien oder Nigeria, überall sehen wir massive Ungleichheit. Insofern haben sehr viele Leute sehr gute Gründe, sich zurückgesetzt zu fühlen."

"Wo kommt der westliche Wohlstand denn her?"

"Imperialismus, Ausbeutung und Sklaverei haben einen ebenso großen Anteil am hiesigen Wohlstand wie die industrielle Innovation. Das zu ignorieren, ist gefährlich..."

"Die heutigen Westler leben mit einer Cartoon-Version ihrer eigenen Geschichte.

Sie glauben, dass sie auf geradlinigem Weg in den Wohlstand gewandelt sind, blenden Terror, Krieg und Gewalt aus, die den «Prozess» begleiteten, und meinen, dass alle Welt nur ihrem gloriosen Pfad nachmarschieren müsse, um den gleichen Wohlstandslevel zu erreichen."

"Ganz ehrlich: Ich sehe absolut keinen Fortschritt in Richtung liberale Demokratie. Nirgendwo."

C.M.: Was wäre denn konkret hilfreich?

"Sicher nicht, ein Land zu erobern und ihm die liberale Demokratie aufzuzwingen.

Das haben wir nun mehrmals gesehen. Klüger wäre es, Arbeitsplätze zu schaffen, erst einmal eine Basis zu legen – anstatt irgendwo anzukommen und Wahlen zu veranstalten, die dann nur neue Demagogen an die Macht bringen und das System letztlich sogleich wieder destabilisieren..."

nzz.ch, Claudia Mäder03.04.2018


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